Die Intensivstationen sind voll und die Spitäler rufen um Hilfe: Wie der Pandemie-Journalismus erneut zuschlägt



von Catherine Riva und Serena Tinari, Re-Check.ch
Veröfentlicht am 7.11.2020

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Die Schweiz wird gegenwärtig von einer äusserst emotionalen Medienberichterstattung über die Auslastung der Intensivstationen im COVID19-Kontext beherrscht.

Anlässlich der Pressekonferenz des Bundesrates vom 4. November 2020 erklärte Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle beim BAG: «Die neuesten mir vorliegenden Zahlen sind 440 Personen auf der Intensivstation, die nicht mit Covid in Verbindung stehen, 363 Personen die mit Covid in Verbindung stehen und 324 freie Plätze. Aber das ändert sich sehr schnell, aber die Reserve beträgt etwa 27%.» (siehe Video unten)

Diese Erklärung hat eine wahre Flut von Medienberichten im Land ausgelöst und zweifellos die Ängste der Bevölkerung, die bereits unter grossem Druck steht, verstärkt. Aber noch einmal: Was in den vielen Berichten leider fehlt sind Bezugspunkte und Elemente, die die Dinge ins rechte Licht rücken.

Sind die Bedingungen, unter denen diese Dienste heute arbeiten, wirklich so aussergewöhnlich wie es die Medien behaupten? Die Antwort ist um einiges differenzierter.

Gegenwärtig werden drei Hauptargumente genannt, die dafürsprechen sollen, dass die Situation in den Krankenhäusern bald kippen oder sogar ausser Kontrolle geraten könnte:

  1. Die Belegung soll in einigen Einrichtungen bei über 75% liegen.
  2. Das Pflegepersonal könnte bald gezwungen werden, eine Triage durchzuführen. Das würde bedeuten, dass die Aufnahme einiger Patienten auf die Intensivstation infolge Platzmangels nicht mehr möglich ist.
  3. Die Hilferufe der Krankenhäuser nehmen zu.

Zu Punkt 1:

Eigentlich ist eine Belegung von 75% auf Intensivstationen normal, auch ohne COVID19. Intensivstationen stossen regelmässig an ihren Belastungsgrenzen. Bereits 2007 erinnerten René L. Chiolero, Leiter der Intensivstation für Erwachsene des CHUV (Lausanne) und Jean-Claude Chevrolet, Chefarzt der HUG-Intensivstation (Genf) zum Beispiel an den grossen Unterschied «zwischen den Intensivstationen und den anderen klinischen Abteilungen. Erstere müssen mehrere Zuströme aus fast allen Abteilungen des Krankenhauses bewältigen, dies im Gegensatz zu den klinischen Abteilungen, die ihrerseits nur eine einzige Verbindung mit der Intensivstation haben. Dieser Umstand wird durch die sehr begrenzte Anzahl von Betten, die auf der Intensivstation betrieben werden im Vergleich zu Zwischenstationen und Patientenabteilungen, noch zusätzlich erschwert. In einem modernen Krankenhaus liegt der Anteil der Intensivbetten zwischen 5 und 10 Prozent der Gesamtbettenanzahl. In grossen Krankenhäusern mit einem grossen Strom aus der Notaufnahme führt dies dazu, dass die Intensivstation meist auf einer Just-in-time-Basis arbeitet. Diese Beobachtung zeigt, dass die Intensivstation ein echter Engpass im Krankenhaus ist, der leicht gesättigt werden kann und manchmal nicht mehr in der Lage ist, seinen Auftrag zu erfüllen».

Dieser Just-in-Time-Betrieb und seine Folgen betreffen insbesondere die Universitätskliniken: so stellte das CHUV in seinem Jahresbericht 2017 fest, dass die Belegung «auf der Intensivstation (…) weiterhin (…) nahe bei 90% liegt, während bei den Akutbetten das Optimum bei 85% liegt». Derselbe Bericht stellte fest, dass zwischen 2015 und 2017 die Belegung in der Intensivpflege für Erwachsene zwischen 90,9% und 93,4% lag.

Zu Punkt 2:

Auch die Frage der Triage auf der Intensivstation ist nichts Neues. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften stellt in ihrer Broschüre Medizinisch-ethische Leitlinien: Intensivmedizinische Massnahmen fest: «Bei der Aufnahme auf die Intensivstation übernimmt der verantwortliche Facharzt für Intensivmedizin die Rolle eines Gate-Keepers. Sterbende Patienten sowie Patienten, die keine reelle Aussicht haben, je wieder von intensivmedizinischen Massnahmen unabhängig zu werden, sollen nur in begründeten Ausnahmesituationen in die Intensivstation aufgenommen werden (…) Die Hospitalisation in der Intensivstation kann zu einer zusätzlichen Traumatisierung führen. In die Intensivstation aufgenommen werden Patienten in einem lebensbedrohlichen Zustand oder mit dem Risiko auf Entwicklung eines solchen. Letzteres betrifft insbesondere auch Patienten nach einem operativen oder anderen invasiven Eingriff, der aufgrund seines Ausmasses oder wegen vorhandener Komorbiditäten vital gefährdend sein könnte. Die Intensivtherapie ist bei diesen Patienten aber nur dann indiziert, wenn die Aussicht besteht, dass die Rückkehr in ein angemessenes Lebensumfeld möglich ist. Sterbende Patienten sowie Patienten ohne Aussicht darauf, je wieder von intensivmedizinischen Massnahmen unabhängig zu werden, sollen demzufolge unter normalen Umständen nicht in eine Intensivstation aufgenommen werden.»

Im Falle des Coronavirus-Ausbruchs betrifft dieses Thema insbesondere die Betreuung älterer Patienten. Aber auch hier handelt es sich nicht um ein neues Thema, welches erst mit COVID19 in den Fokus geriet. In einer Gesellschaft, die immer älter wird, ist die Rolle der Intensivpflege eine zentrale und auch Gegenstand von Forschung und Diskussion. Ein Artikel in der Revue Médicale Suisse von 2009 erinnert daran, dass bei Geräten zur Reanimation «viele Fragen aus medizinischer, ethischer und wirtschaftlicher Hinsicht bei der Versorgung älterer Patienten beantwortet werden müssen» und dass die «zugrunde liegende Frage die der Prognose (…) und damit die der Sinnlosigkeit der Pflege» ist.

Zu Punkt 3:

In den Berichten, die bisher über die «Hilferufe» verschiedener Spitäler berichtet haben, fehlte bisher immer eine grundlegende Information: Die Besonderheit des Finanzierungsmodells der Schweizer Spitäler. Die Einnahmen der Spitäler sind weitgehend von ambulanten Leistungen abhängig, insbesondere von elektiven Operationen. Gegenwärtig gibt es einen Machtkampf zwischen verschiedenen Kantonen und dem Bundesrat, sowie zwischen Bern und einzelnen Spitälern. Bern wünscht sich, dass die Kantone ihre Spitäler zwingen, auf diese Eingriffe zu verzichten. Wobei klargestellt wird, dass es keine finanzielle Entschädigung geben wird. Es sei jedoch daran erinnert, dass viele Krankenhäuser im April Kurzarbeit beantragt haben, ohne zu wissen, ob sie Anspruch darauf haben. Nun scheint es jedoch so, dass die Antwort (1) (2) im Falle öffentlicher Einrichtungen negativ ist und diese somit nicht entschädigt werden. Die «Hilferufe» einiger Krankenhäuser müssen daher auch vor diesem Hintergrund gehört und gelesen werden und nicht nur vor dem Hintergrund der Pandemie.

Zum Thema Intensivstationen: Die täglich in den Medien publizierten und aktualisierten Infografiken, die die dargestellten Zahlen nicht in einen Kontext stellen, vermitteln der Bevölkerung kein evidenzbasiertes Bild der Situation in den Schweizer Spitälern. Sie ermöglichen es der Öffentlichkeit auch nicht zu verstehen, inwiefern die Situation wirklich aussergewöhnlich und besorgniserregend ist, oder ob sie eher auf die Art und Weise zurückzuführen ist, wie das Gesundheitssystem in unserem Land funktioniert.

In einer idealen Welt sollten die Vertreterinnen und Vertreter der eidgenössischen und kantonalen Exekutive diese Punkte deutlich machen, wenn sie sich zu diesen Daten äussern.

Da wir jedoch nicht in einer idealen Welt leben, fällt diese Rolle im Prinzip den Medien zu. Es liegt an ihnen, diese Fragen zu stellen, Informationen zu suchen und der Öffentlichkeit die Mittel an die Hand zu geben, die Ereignisse im Zusammenhang interpretieren zu können. Aber eben auch die Regierung direkt mit diesen Fakten zu konfrontieren. Die grosse Frage ist also: Wo sind die Journalisten?