Analyse und Kommentar
Catherine Riva, Serena Tinari – Re-Check.ch
7. Februar 2022
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Der Bundesrat kündigte am 2. Februar 2022 an, dass der Gebrauch des COVID-Zertifikats in der Schweiz am 17. Februar widerrufen werden könnte. Der Vorschlag befindet sich derzeit in der Vernehmlassung bei den Kantonen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Schlussfolgerung, dass die Tage dieses Instruments gezählt sind. In Wirklichkeit deutet aber alles darauf hin, dass die Behörden beabsichtigen, die Entwicklung des Systems und der ebenfalls sehr umstrittenen Tracking-App SwissCovid fortzusetzen.
Update: In der Schweiz und in der Europäischen Union verstetigen die Behörden hinter den Kulissen umstrittene Instrumente
Am 1. Februar 2022 berichtete das Online-Medium Inside-IT, dass Ubique vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem freihändigen Verfahren, d. h. ohne Ausschreibung, erneut einen Auftrag erhalten hatte, diesmal im Wert von 5,5 Millionen Franken. Der Auftrag betrifft die von Ubique entwickelte SwissCovid-App und die App für das COVID-Zertifikat. Das Mandat läuft bis zum 31. Dezember 2023. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen den Aussagen der Exekutive und der Tatsache, dass sie noch mehrere Millionen Franken in diese Instrumente investiert?
Nein, sagt die Regierung. Die Gründe, die der Bundesrat und das BAG für die Aufrechterhaltung und den Ausbau dieser Infrastruktur anführen, sind die unbekannte Zukunft und die Vermeidung von Verschwendung. Der Sprecher des BAG, Grégoire Gogniat, versicherte uns im November 2021, dass es «nie darum ging, das Zertifikat langfristig zu erhalten. Das Ziel war immer, das Zertifikat nur während der Pandemie zu verwenden».
In der Tat scheint «die Pandemie» zu einem Konzept zu werden, das durch unklare Eventualitäten beliebig erweitert werden kann: die potenziellen (aktuellen und künftigen) Anforderungen der Schengen-Staaten an Reisende, die mögliche Entscheidung der Kantone, weiterhin auf Zertifikate zurückzugreifen, oder eine mögliche Rückkehr des Coronavirus im Herbst und Winter 2022, die eine Reaktivierung der Apps erforderlich machen könnte. Durchaus denkbare Szenarien, wenn man bedenkt, dass bis heute weder die Behörden noch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angegeben haben, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um die Pandemie als beendet zu betrachten.
Schliesslich können die Behörden mit dem Argument der «Verschwendung» behaupten, dass die Apps zur Rückverfolgung und Speicherung von COVID-Zertifikaten noch nicht «ausgedient» hätten und dass es «keinen Sinn machen würde, sie in den Müll zu werfen und dann wieder von vorne anzufangen», wie Patrick Mathys, Leiter der Sektion Krisenmanagement und internationale Zusammenarbeit des BAG, sagte. Der Grund: Die Apps könnten auch bei anderen Krankheiten oder Epidemien eingesetzt werden. In diesem Sinne hat das BAG auch eine Ausschreibung für die Weiterentwicklung des Covid-19-Dashboards «zum EPI-Infoportal» veröffentlicht. Dieser Auftrag läuft bis zum 31. August 2027.
All diese Entwicklungen, sowie die Deklarationen der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz und der Europäischen Union, bestätigen die Risiken von Covid-19-Zertifikaten, welche wir in unseren 2021 veröffentlichten Untersuchungen aufgezeigt und dokumentiert haben: Wenn eine solche «vorübergehende» Lösung eingeführt wird, ist das Risiko gross, dass sie dauerhaft wird und schliesslich für einen anderen als den ursprünglich vorgesehenen Zweck verwendet wird. Dies wird als «function creep» (Zweckentfremdung) bezeichnet. (1) (2).
Eine breite gesellschaftliche Debatte über all diese Fragen und eine umfassende Aufarbeitung des Covid-Krisenmanagements sind mehr denn je notwendig. Wird sich das Parlament dessen endlich annehmen?